Zu Ende denken
Worte zum Unausweichlichen
Rebecca Panian/Elena Ibello und viele Autorinnen und Autoren, u.a. Marianne Pletscher
Wörterseh-Verlag, Gockhausen 978-303763-032-7
978-303763-032-7
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Synopsis
Text zu einem Buch über das Thema Sterben. Einer der Texte, in denen ich versuche, den Suizid meines Partners Werner zu verarbeiten, wie auch im Film "Dein Schmerz ist auch mein Schmerz (2011)".
Ich bin bereit, zu leben und zu sterben
Eigentlich hatte ich nie Mühe mit dem Tod oder dem Sterben. Ich erlebte das grosse Privileg, meine Mutter dabei begleiten zu dürfen. Gezeichnet von einer schweren Krebserkrankung wollte sie zuhause gepflegt werden und meinen Bruder und mich Tag und Nacht um sich haben. Sie war scheinbar bereit zu gehen, sie hatte das Leben für sich zu Ende gedacht. Aber als sie dann den schwarzen Vogel auf dem Fensterbrett sitzen sah und mich bat, ihn zu verscheuchen, war es an mir, ihr zu sagen, sie sähe jetzt womöglich den Tod, und sie solle keine Angst haben, sie sei unterwegs an einen Ort, wo es ihr gefallen würde. Das nahm sie dankbar an und schlief friedlich ein.
Dass ich meiner Mutter so helfen konnte und dass mir weder der schwarze Vogel als Bote des Todes noch ihr Sterben Angst machten, gab mir später den Mut, mich an verschiedene Filme zum Thema „Sterben“ zu wagen (u.a. "Besser Sterben 2004)" und meine positive Haltung einem breiteren Publikum mitzuteilen. Ich konnte in den Filmen zeigen, dass es Institutionen gibt, die Sterbenden helfen, die Würde bis zum Schluss zu wahren und dass es Menschen gibt, die es schaffen, sich gut auf den Tod vorzubereiten . Eine Protagonistin in einem meiner Filme war Antonia. Die noch junge, ehemals so lebenslustige Antonia, die an der tückischen Muskelkrankheit ALS litt, wurde mir zu einem Vorbild. Sie hatte die Auflehnung und die Resignation auf die Seite gelegt, sie hatte gelernt, dass das Leben auch dann noch lebenswert sein konnte, als sie nur noch einen Finger und den Kopf bewegen konnte. Sie wollte sogar kurz vor ihrem Tod nochmals aufs Riesenrad. Dieser Mut und diese Lebenslust bis zum Schluss haben mich tief beeindruckt.sh. Film "Antonia lässt los (2005)".
Dann brach der Tod brutal in mein Leben ein. Mein Partner beendete sein Leben. Völlig unerwartet für mich, ohne Vorwarnung, ohne Erklärung. Da gab es nichts zu Ende zu denken, das Ende war da, ohne dass ich je hätte daran denken können. Ein Ende, das so gewalttätig, so sinnlos, so zutiefst traurig war für mich, dass das Denken und das Leben erst einmal still standen. Ich begann sogar, mir das eigene Ende herbeizuwünschen. Es wäre mir völlig gleichgültig gewesen, sofort tot umzufallen.
Dieser Zustand dauerte trotz einer äusserlichen Normalität, in der mein Umfeld mich arbeiten und funktionieren sah, mehr als zwei Jahre an. Und wieder war es ein Film, der mir dann half, weiterzudenken und zu verarbeiten . Für diesen Film sprach ich mit über dreissig Angehörigen von Menschen, die Suizid begangen hatten. Fünf von ihnen nahm ich in den Film auf und verknüpfte unsere Schicksale filmisch miteinander. Ich lernte, mit und von ihnen, das Leben unserer unerwartet aus dem Leben geschiedenen Verstorbenen zu Ende zu denken, indem ich mein ganzes Leben mit meinem Partner noch einmal durchlebte. So gelang es mir, wenigstens nachträglich Abschied zu nehmen. Die Trauer wird bleiben, aber sie ist Teil meines Lebens geworden und erdrückt mich nicht mehr.
Ich habe vor kurzem gelernt, mein Leben wieder als lebenswert anzusehen. Erst wenn frau das kann, hat sie auch eine Chance, ihr Leben positiv zu Ende zu denken. Heute gelingt mir das meistens. Ich freue mich, dass ich laut Statistik noch zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre vor mir habe, falls ich so gesund bleibe, wie ich heute bin. Müsste ich aber morgen gehen, so fände ich das nicht weiter schlimm. Denn ich habe so intensiv gelebt und so intensiv über das Sterben nachgedacht, dass ich bereit bin, zu leben und zu sterben. Nur – und da unterscheide ich mich nicht von den Vielen, die diese wertvollen Erfahrungen nicht machen konnten – so schmerzlos und schnell wie möglich zu sterben wäre mir lieber als ein langsamer Abschied. Obwohl ich gelernt habe, dass auch das Sinn machen kann.
Ich möchte positiv schliessen: Vor kurzem habe ich wieder ein Vorbild gefunden. Der 93-jährige Stéfane Hessel, der noch quicklebendig wirkt, sagte in einem Interview, er freue sich auf den Tod und sei unglaublich neugierig, was da auf ihn zukomme. Das, so scheint mir, ist die optimalste Form, das Leben zu Ende zu denken. Ich bin genauso neugierig wie er.